24. November 2025
Es gibt mehr als 40 000 Tierarten in Deutschland – bisher wurde 33 Mal ein Tier des Jahres auserwählt, zunächst von der „Schutzgemeinschaft Deutsches Wild“, seit 2017 von der „Deutschen Wildtier Stiftung“. Und zum dritten Mal (nach 1994 und 2002) ist es der Rothirsch.
Der Gedanke an George Orwell drängt sich auf: Alle Tiere sind gleich. Aber manche Tiere sind gleicher! Dabei ist die Tierart Rotwild in keiner Weise bedroht, im Gegenteil. In den letzten 25 Jahren haben sich Hirsche in Deutschland erheblich vermehrt und auch ausgebreitet, weil sie – wie andere Schalenwildarten – vom günstigen Klima, der besseren Nahrungsgrundlage und der extensiven Jagd (z. T. inklusive Fütterung) profitieren. Es ist wahrscheinlich, dass es in Deutschland in der Neuzeit nie mehr Hirsche gab als derzeit. Und das, obwohl kaum natürlicher Lebensraum für das Rotwild in unserer Kulturlandschaft vorhanden ist. In den Wäldern verursachen die vielen Hirsche exorbitante Schäden an den Ökosystemleistungen des Waldes. In den meisten Rotwildkernrevieren haben Rot- und Rehwild die meisten krautigen Arten eliminiert und den Großteil der potenziellen Biomasse gefressen bzw. verhindert. Soweit der Rotwildäser reicht, findet sich in vielen Revieren keine krautige Pflanze mehr, weil alles aufgefressen wurde. Mit jeder der zahlreich ausselektierten Arten wird eine Kaskade des Artensterbens in Gang gebracht. Die Wälder entwickeln sich zu artenarmen Baumsteppen: Kiefern oder Fichten über einer Schicht aus Gras. Beispiele gibt es schon jetzt zuhauf.
Solche ökonomischen und ökologischen Schäden kann die Deutsche Wildtier Stiftung nicht gänzlich leugnen. Sie räumt ein, dass der Hirsch diese Schäden verursachen „kann“, lässt das aber hinter dem Bild des emsigen Bioingenieurs zurücktreten, der kleine Lichtungen schafft, auf denen Schmetterlinge auf „sonnenliebenden Kräutern“ leben. Im Fell verbreitet er die Samen dieser Kräutlein, und seine abgeworfenen Geweihstangen bieten „mineralstoffreiche Nahrung für Eichhörnchen“.
Bei der „Wahl“ zum Tier des Jahres – Spender konnten ihr Votum abgeben, und es gab auch eine allgemeine Online-Befragung – setzte sich der Rothirsch diesmal gegen den Goldschakal und das Hermelin durch. Der Deutschen Wildtier Stiftung passt das wunderbar ins Konzept. Sie widmet der Imagepflege des Rotwildes schon immer einen erheblichen Teil ihrer Arbeit, die zwar weit über die klassischen jagdbaren Arten hinausgeht, im Kern jedoch ideell und materiell gespeist wird von der Idee der weidgerechten Hegejagd und ihren Anhängern. Ein Hege-Flaggschiff wie der Hirsch ist günstig für den Spendenfluss. Und auch die Jagdpächterlobby wird es freuen. Der Hype auf Rotwild- Kernreviere ist immer noch ungebrochen. Für die Pacht eines solchen Revieres werden mitunter 200 Euro pro Hektar und Jahr hingeblättert. Für den Abschuss eines elf, zwölf Jahre lang geschonten und meist gefütterten Recken, der in aller Regel auf Hunderten Wildkamerafotos verewigt wurde und einen Namen hat, werden weit über 10 000 Euro fällig.
Aber es geht der Wildtierstiftung ja nicht um teure Knochen an der Wohnzimmerwand. Sie schlägt Alarm wegen der durch Lebensraumzerschneidung verursachten genetischen Verarmung der Art, die zu einem „beginnenden Aussterbeprozess“ führe. Deshalb brauche der Rothirsch mehr und besser vernetzten Lebensraum. Doch das Problem der genetischen Verarmung ist nicht das inselhafte Vorkommen. Zum einen könnten leicht „Blutauffrischungen“ gemacht werden, indem Rotwild in einem Verbreitungsgebiet gefangen und in einem anderen wieder ausgesetzt wird. Mit dem Aussetzen von Rot-, Dam- und Muffelwild (neuerdings auch Muntjak) hat die Jägerschaft ja Erfahrung. Zum anderen könnten wandernde junge Hirsche zwischen den Inseln tatsächlich geschont werden, so dass auch einmal ein Hirsch lebend ein anderes Gebiet erreicht. Doch hier fehlt es an der Disziplin der Jäger. Es wird nie gelingen, dass Jäger einen Hirsch durch Dutzende Reviere laufen lassen, in denen sonst nie Rotwild vorkommt. Bei der Überhöhung des Hirsches zum „König“ ist das auch kein Wunder.
Übrigens gibt es zahlreiche Tierarten, die kurz vor dem Aussterben stehen und dringend Hilfe brauchen. Wie unsere Gelbbauchunke. Sie kommt (z.B. in NRW) auf weniger Inseln vor als das Rotwild und dürfte genetisch verarmt sein. Aber wen interessiert’s schon?
Bild: Grassteppe Heiligenborner Wald
Seit 12 Jahren hat Rotwild diese Flächen entmischt und befreit von Kräutern. Es wachsen nur noch Gräser und Fichten in einer absolut artenverarmten Baumsteppe. Balzende Schmetterlinge auf „sonnenliebenden Kräutern“ sucht man auf diesen „kleinen Lichtungen“ vergebens..
